Geschichte

Ausgrabungen beim Neubau mit den Skletten der sog. Irlbacher Kinder
Quelle: Pfarrei Irlbach

„Irlbacher Kinder“


Seit dem 13. Jahrhundert nehmen kleinere Wallfahrten, vornehmlich die Marienwallfahrten, zu. Viele dieser Wallfahrtsorte, Zeugnisse des mittelalterlichen Volksglaubens, sind heute unbekannt und die dort geübten Bräuche dem Vergessen anheim gefallen.
Nördlich der Donau, im heutigen Wenzenbach-, ehemals Erlenbachtal, liegt das Dorf Irlbach. Spätestens für das 9. Jahrhundert ist das Interesse des Regensburger Hochstifts am Ausbau und der Arrondierung seiner Besitzungen in diesem Raum archivalisch belegt.
Bischof Ambricho (863—882) zeichnet eine Urkunde in „domo episcopi inter Erilapah et Menzinpah constructa. Folgt man früheren Überlieferungen, so bestand allerdings bereits unter Bischof Gawibald (739—761) eine Kapelle in Irlbach „Elirespah, die vom heiligen Rupert, so will es die Sage, um das Jahr 700 gegründet sein soll. Im Jahr 983 übereignet Bischof Wolfgang Irlbach dem Regensburger Benediktinerinnenkloster St. Paul, dem so genannten Mittelmünster, zur Erstausstattung.
Hier verblieb es trotz zahlreicher Konflikte mit den Herren von Schönberg bis ins ausgehende 16. Jahrhundert.

Die auf einem Hügel oberhalb des Tales gelegene, mit ihrem gotischen Turm das Ortsbild beherrschende Kirche Mariä Himmelfahrt verrät auf den ersten Blick nichts von ihrer Vergangenheit. Sie stellte sich als ein im Laufe mehrerer Jahrhunderte gewachsener, immer wieder den Erfordernissen der Zeit angepasster Bau dar. Von der mittelalterlichen Substanz waren auf den ersten Blick nur der mächtige Kirchturm und der gotische Chor zu erkennen. Da das Kirchenschiff im Wesentlichen eine Erweiterung des 19. Jahrhunderts war und kunsthistorisch wenig Bedeutung besaß, musste es im Jahr 2003 dem Neubau eines unterkellerten Gotteshauses weichen. Mögliche Reste älterer Sakralbauten im Kirchenschiff konnten deshalb nicht erhalten werden. Aus diesem Grund wurde in bester Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde und dem Architekten etwa ein halbes Jahr vor dem geplanten Baubeginn eine Präventivgrabung veranlasst, die neben einer Reihe von Vorgängerbauten einen in dieser Form bisher einmaligen Befund freilegte.
Bereits direkt unter dem jüngsten Fußboden kamen umfangreiche Spuren früherer Kirchenbauten ans Tageslicht. Tatsächlich wiesen die ältesten Befunde in die Zeit der Ersterwähnung zurück und belegen die schriftlichen Quellen zur Entstehung aus archäologischer Sicht. Die ältesten Überreste stellen die Pfostengruben einer Holzkirche dar. Da westlich der Kirche Siedlungsschichten mit Keramik des 8./9. Jahrhundert angeschnitten wurden, liegt die Datierung der Holzkirche in spätmerowingische/-karolingische Zeit nahe.

Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt, womöglich noch in karolingischer Zeit, wurde der Holzbau durch eine in Form und Dimensionierung annähernd identische Steinkirche ersetzt.
Der nächste Kirchenbau wird zur Zeit der Romanik ebenfalls als solider Massivbau neu errichtet. Das Kirchenschiff ist als einfacher rechteckiger Saal ausgeführt. Der Chor wird entsprechend der zeittypischen Sanktuariumsgestaltung mit einer halbrunden Apsis ausgestattet.
Der unter dem heutigen Chor gelegene Teil des romanischen Friedhofs barg einen in dieser Form bisher einmaligen Befund. Um den halbrunden Chor, nahezu strahlenförmig angeordnet, lagen über 90 Kindergräber. Die Gräber überschnitten sich, und es fand sich daneben eine große Zahl umgelagerter Knochen. Da aus Gründen des Denkmalschutzes nur ein Freilegen der Gräber bis zu alle Skelette erfasst wurden, muss von einer weitaus größeren Zahl von Bestattungen ausgegangen werden. Mit Errichtung des heute noch stehenden gotischen Chores im Jahr 1347 wurde ein Teil dieser Gräber überbaut.

Die Untersuchung der Skelette zeigte, dass es sich bei den Bestatteten weitgehend um Neugeborene handelte, daneben fanden sich aber auch Frühgeburten und Kleinkinder. Auf den ersten Blick möchte man an sog. „Traufkinder” denken, nicht getaufte Neugeborene, die im hohen Mittelalter an den Traufseiten der Kirchenschiff bestattet wurden. Das vom Kirchendach herabrieselnde Regenwasser sollte ihnen quasi posthum das Sakrament der Taufe spenden. Diese Bestattungen, meist in einer embryonalen Seitenlage, finden sich jedoch in der Regel an den Seiten der Kirchenschiffe.
In Irlbach jedoch wirken die Kindergräber besonders exponiert. Wie ein Strahlenkranz sind sie um den Chor angeordnet und von den übrigen Gräbern durch einen Weg getrennt. Der Ort ist ungewöhnlich, weil die Bestattung am Chor, d.h. in Altarnähe und damit in Nähe zum Allerheiligsten, meist bedeutenden Mitgliedern der Kirchengemeinde, etwa dem Ortsadel, vorbehalten war. Kaum vorstellbar ist, dass gerade dieser Platz ungetauften Kindern, also im mittelalterlichen Verständnis Heiden, vorbehalten war. Diesen war der Weg ins Himmelreich versperrt. Die im Schoß gefalteten Hände der Irlbacher Kinder, auch der Neugeborenen, zeigen unmissverständlich, dass sie getauft waren.

Ein Beispiel aus der Schweiz zeigt, wie sehr Eltern um das Seelenheil ihrer neugeborenen und daher ungetauft verstorbenen Kinder bemüht waren. In Oberbüren im Kanton Bern ist durch einen Rechtsstreit des Konstanzer Bischofs mit der Kirchenverwaltung des Kantons Bern ein Wallfahrtsbrauch aktenkundig geworden, der sicher nicht nur dort üblich war. Vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zur Reformation wurden in der dortigen Marienkapelle Totgeborene und ungetauft verstorbene Säuglinge kurzzeitig wieder „zum Leben erweckt”, getauft u,td bestattet. Die toten Säuglinge wurden zu diesem Zweck an Kohlenfeuern erwärmt, die Lebensprobe erfolgte mit einer Feder, die den schwachen Atem des reanimierten Kindes anzeigen sollte. Diese Aufgabe wurde von Frauen des Ortes ausgeführt, die dies wegen des großen Andrangs von Weitem angereister Pilger als hauptberufliche Einnahmequelle betrieben haben dürften. Der Bischof von Konstanz beklagt in seinem Untersuchungsbericht für die ersten Jahre der Ausübung des Ritus die Taufe von bereits über 2000 toten Kindern. Bestätigt wurde der Brauch im Falle Oberbüren im archäologischen Befund durch eine große Anzahl von Neugeborenenskeletten.

Die Quellenlage im Fall Irlbach ist nicht so detailliert. So findet sich als einziger Nachweis einer mittelalterlichen Wallfahrt zur dortigen Kirche Mariä Himmelfahrt eine Notiz über die Pilger, die in großer Zahl in einem nahe gelegenen Waldstück zu übernachten pflegten. Der archäologische Befund lässt sich hier bisher nicht durch Schriftquellen klären und kann letztlich nur durch Vermutungen interpretiert werden. Die große Zahl der Kindergräber mag im Zusammenhang mit der Wallfahrt stehen. Die Altersstruktur der Kinder zeigt, dass ein Teil bereits sicher zu Lebzeiten getauft worden war. Die Kinder starben an Krankheiten, denn viele zeigten Mangelerscheinungen. So ist es gut möglich, dass die kranken Kinder und sicher auch kranke Erwachsene in der Marienkapelle in Irlbach Heilung und Trost suchten, dort verstarben und beerdigt wurden. Ob bei den Föten und neugeboren Verstorbenen ein Ritus wie der oben beschriebene Anwendung fand, ist spekulativ.
Deutlich wird in jedem Fall, dass im Mittelalter vielerorts die Laienfrömmigkeit, nicht abgestumpft durch die hohe Kindersterblichkeit, auch dem verstorbenen Früh-oder Neugeborenen einen würdigen Platz im Diesseits wie im Jenseits zubilligte.

Jochen Scherbaum